Das Wachtürmchen und Schilderhäuschen der Wartburg
Susan Bomberg, Lohnbuchhalterin der Wartburg, stellt ihr Lieblingsobjekt des Monats November 2023 vor:
„Wenn ich früh am Morgen die 217 Stufen vom Parkplatz bis zur Burg nach oben gestiegen bin, begrüßt mich als erstes ein kleines Türmchen aus Sandstein. Dahinter kann man den Blick über Eisenach bis zum Burschenschaftsdenkmal schweifen lassen. Besonders wenn es Herbst wird, sieht man hier beeindruckende Sonnenaufgänge, und die Dächer der Stadt verschwinden manchmal ganz im Nebel.“
Egal auf welchem Weg unsere Gäste den steilen Burgberg erklimmen, zuerst sehen sie das Türmchen. Viele von ihnen verschnaufen dort für einen Moment, genießen den wundervollen Blick in die Landschaft und auf die Burg oder machen die ersten Selfies. Weil der Eingang heute vergittert ist, rufen viele Kinder erfreut: „Mama, Papa, schaut mal, ein Gefängnis!“ Bei genauerem Hinsehen erkennen sie natürlich, dass dieses kleine Gebäude nur Platz für eine Person bietet und man sich schwerlich vorstellen kann, dass hier irgendjemand eingesessen hat. Zumal es nicht mal eine Sitzmöglichkeit gibt. Was ist das also für ein Bauwerk und welchem Zweck diente es?
Dass es nicht nur Wachtürmchen, sondern auch Schilderhäuschen genannt wird, weist auf die Funktionen hin. Bis ins 20. Jahrhundert gab es eine militärische Besatzung, die die Wartburg Tag und Nacht bewacht hat. Man sieht die Männer der „Schildwache“ auf vielen alten Ansichten und Fotografien der Burg. Zumeist haben sie sich vor der Zugbrücke und auf der östlichen Schanze postiert. Dort befand sich auch ein Schilderhaus, das für einen Wachmann Schutz vor Regen, Schnee und Sonne geboten hat. Als ab 1863 der Bereich unmittelbar vor der Burg erneuert wurde und zum Beispiel wieder eine funktionstüchtige Zugbrücke gebaut worden ist, hat der Wartburgarchitekt Hugo von Ritgen auch das heutige Schilderhäuschen entworfen, das den Vorgängerbau ersetzte. Warum es allerdings an dieser Stelle und nicht aus Holz, sondern aus Stein errichtet worden ist, erklärt Ritgens Entwurfszeichnung: Das Schilderhäuschen sollte nämlich zugleich Teil einer Wehranlage werden, mit der er ein Stück des alten Befestigungswerks vor der Burg (wieder) aufbauen wollte. Vermutlich seit dem 15. Jahrhundert hatte die Wartburg ein vorgelagertes Bollwerk (Barbakan), das zunächst eine halbrunde, später eine viereckige Form besessen hat. Goethe hat diesen Bau 1777 gesehen und sein Aussehen sogar in einer Zeichnung festgehalten. Seit 1782 ist die Wehranlage schrittweise abgetragen worden.
Weil Hugo von Ritgen davon ausgegangen ist, dass es auch schon im Mittelalter ein Befestigungswerk vor der Burg gegeben hat, plante er, am Ende des Steinwegs eine hohe Mauer mit Zinnen und einem Wehrgang zu errichten, in der ein Tor den Zugang zur Schanze und zur Zugbrücke ermöglichen sollte. Auf der Schanze sollten die Lärmkanonen, die ja auch schon einmal Objekt des Monats gewesen sind, in einem überdachten Raum mit Schießscharten in der Mauer aufgestellt werden. Daneben war ein Zimmer für die Wachleute geplant. Gegenüber sieht man unser Türmchen, das 1866 dann in achteckiger Form errichtet wurde: Nach außen erscheint es als Wachturm an der wehrhaften Mauer mit Zinnen, nach innen ist es ein Schilderhaus. Es bietet Platz für eine stehende Person, die drei Öffnungen in den Wänden können als Ausguck dienen.
Eine Fotografie aus dem Jahr 1872 zeigt einen Blick aus der ersten Torhalle dorthin: Ein Wachmann hat sich rechts für den Fotografen malerisch auf einer Zinne an der Zugbrücke niedergelassen. Vor dem Schilderhäuschen bzw. Wachtürmchen wird ein anderer von etlichen Damen umringt, die sich offenbar vom beschwerlichen Aufstieg erholen. Sie sitzen neben den heute noch dort liegenden Blidenkugeln oder lehnen sich an die hohen Zinnen, die allerdings in den 1950er Jahren entfernt worden sind.
So gesehen ist das kleine Türmchen nicht nur ein schönes Beispiel der historistischen Wartburgarchitektur vor der eindrucksvollen Thüringer Landschaft, es erinnert auch ein wenig an das tägliche Leben der Menschen auf der Burg.
Das Wachtürmchen und Schilderhäuschen vor der Zugbrücke der Wartburg ist frei zugänglich kann zu jeder Zeit besichtigt werden.
Bildunterschriften und -nachweise:
Bild 1: Das Wachtürmchen und Schilderhäuschen der Wartburg bei Sonnenaufgang, Fotografie, September 2023, Foto: Susan Bomberg
Bild 2: Die Wartburg von Norden mit einem Schilderhäuschen auf der östlichen Schanze, anonym, 1851, Aquarell, Wartburg-Stiftung, Kunstsammlung, Inv.-Nr. G0286
Bild 3: Das Bollwerk der Wartburg vom Ritterhaus aus gesehen, Johann Wolfgang von Goethe, um 1777, Bleistift, Wartburg-Stiftung, Kunstsammlung, Inv.-Nr. G2688
Bild 4: Blick von der Zugbrücke auf die im Bau befindliche Zinnenmauer, Adolphe (Samuel) Braun, 1863/1864, Stereoskopie, Wartburg-Stiftung, Fotothek
Bild 5: Blick aus der Torhalle nach Norden mit Wachmannschaft und Damen, Karl Schwier, 1872, Fotografie, aus dem Wartburg-Album von HARDTMUTH & SCHWIER, Text von Hugo von Ritgen, Nr. 7c, Wartburg-Stiftung, Fotothek
Bild 6: Blick vom Steinweg zum Wachtürmen (Schilderhäuschen) der Wartburg, Robert Bauer, 1883, Feder in Schwarz, Wartburg-Stiftung, Kunstsammlung, Inv.-Nr. G2688
Bild 7: Blick von Osten auf das Wachtürmchen und Schilderhäuschen und den Metilstein, Fotografie, Wartburg-Stiftung, Fotothek, Foto: Rainer Salzmann