Das großartigste Objekt von allen: Die Wartburg
Clara Neumann, wissenschaftliche Volontärin, verabschiedet sich mit Ihrem Lieblingsobjekt des Monats August: "Die Wartburg beherbergt viele wundervolle, kuriose, faszinierende und bemerkenswerte Objekte. Doch das großartigste Objekt – das ist doch eigentlich die Wartburg selbst. Die Gebäude, der Mythos, der Lebensraum für Geschichte(n) und Legenden, die an den zum Teil immerhin fast tausend Jahre alten Mauern haften; all das macht die Wartburg zu einer Idee, zu einem Symbol, das eine ganz eigene Ausstrahlung hat."
Jetzt, da sich mein Volontariat dem Ende zuneigt und ich auf die vergangenen zwei Jahre zurückblicke, denke ich mir immer wieder, dass die größte Besonderheit auf dieser Bergspitze die Burg selbst ist. Und wie viele Menschen stimmen mir zu? Zehntausende kommen jährlich nach Eisenach und machen sich an den anstrengenden Aufstieg (oder lassen sich mit dem Shuttle-Bus hochfahren), um etwas über ihre Geschichte und die Menschen hier zu erfahren und natürlich um die Lutherstube zu sehen. Die Objekte der Sammlung sind eine ganz eigene Angelegenheit, doch die Wartburg als Ensemble ist der eigentliche Magnet für Groß und Klein von Nah und Fern, aus der ganzen Welt. Ganz unwillkürlich suche ich jedes Mal nach ihr, wenn ich auf Eisenach zufahre, und wenn ich sie finde, denke ich mir nicht ohne Stolz: „Und DA arbeite ich!“
Der Legende nach 1067 von Ludwig dem Springer gegründet, erstmals 1080 in den Quellen erwähnt, thront die Wartburg über Eisenach und beobachtet – und bewacht – die Gegend. Nahezu am geographischen Mittelpunkt Deutschlands gelegen, ist sie auch für die deutsche Geschichte bedeutend, so bedeutend, dass Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach im 19. Jahrhundert ein „Nationaldenkmal“ für das noch nicht geeinte Deutschland machen wollte. Von der ersten Bebauung aus dem späten 11. bzw. frühen 12. Jahrhundert ist nur ein geringer Mauerrest vorhanden, der unter dem Palas verläuft und auf eine viel kleinere Bebauung des Berges schließen lässt. Ab Mitte des 12. Jahrhunderts fing der Palas an, Gestalt anzunehmen und setzte neue Maßstäbe für das Residieren und Repräsentieren auf einer Burg. Über die Jahrhunderte hinweg wurden nach und nach die anderen Gebäude errichtet, alte und in Brand geratene abgerissen, statt ihrer wieder neue aufgebaut. Im 19. Jahrhundert gaben ihr Carl Alexander und der Architekt Hugo von Ritgen das Gesicht, das sie heute der Welt zeigt.
Ein für mich besonders schöner Teil der Arbeit auf der Wartburg ist, die Burg an Orten und zu Zeiten zu sehen, die für den Besucher zumeist unzugänglich sind. Die Macht des Schlüssels, der Türen öffnet, die für andere verschlossen sind, ist nur ein Teil davon. Der andere sind die Anblicke der Wartburg im frühen Hochnebel des Herbstes, in der morgendlichen Finsternis des Winters, eingebettet im dicken, lockeren Schnee des Dezembers, der alle Geräusche dämpft, im Sonnenaufgang des Frühlings, erleuchtet von den ersten goldenen Strahlen des Tages, oder bereits hell am Funkeln vor dem blauen Himmel des Sommers, der sich bereits um sieben Uhr morgens zeigt. Im Laufe der zwei Jahre sind mehr als genug Bilder entstanden, um meinen Eltern einen dicht bestückten Kalender von Wartburg-Bildern zu Weihnachten schenken zu können, den meine Mutter jedem Gast stolz unter die Nase hält. Bilder, die es sonst kaum gibt, Schnappschüsse mit dem Handy gemacht, wenn sich spontan eine Gelegenheit, ein Motiv geboten hat. Diese Fotos zeigen eine andere Seite der Wartburg. Es sind keine Postkartenmotive, die sich gut vermarkten lassen, aber für mich sind diese Ansichten genauso Teil der Wartburg wie die von der Schanze aus tausendfach aufgenommene Ostfassade mit posierenden Besuchern davor.
Für mich war die Wartburg aber nicht nur ein Ort um Bilder zu machen, sondern natürlich vor allem ein Ort des Arbeitens und des Lernens. Ein Museum will gepflegt werden, Sonderausstellungen wollen entworfen und ausgefeilt, Objekte präsentiert und Gäste herumgeführt werden. Heute kann ich durch die aktuelle Sonderausstellung „Von der Wartburg ins Thüringer Burgenland“ gehen und mit dem Finger auf das zeigen, was an meinem Schreibtisch entstanden ist, oder anderen den Begleitband unter die Nase halten und sagen: „Guck mal, das hab ich geschrieben!“ Zu meinen unterhaltsamsten Aufgaben zählte das spontane Modeln im eigens für die Ausstellung angefertigten Kettenhemd (auch wenn die Bilder es nicht in die nächste Runde, also in den Ausstellungskatalog, geschafft haben). Aber der Hauptteil meiner Arbeit fand unter dem Dach der Vogtei statt, wo das Archiv untergebracht ist. Mehrfach durfte/konnte/musste ich mich durch die Regale wühlen, weil Anfragen an uns gestellt werden. Über zwei Jahre hinweg habe ich einen guten Teil des Archivs weiter erschlossen und verzeichnet und viele Geschichten rund um die Burg erfahren.
Besonders die Tageblätter der Burgkommandanten Bernhard und Hermann von Arnswald sowie Hans Lucas von Cranach spielten dabei eine große Rolle. Diese Tagebuchaufzeichnungen geben detaillierte, teils ganz private Einblicke in die Arbeit, den Alltag und das Denken der Kommandanten. Aber auch über persönliche Begegnungen, Erlebnisse und Gedanken haben sie geschrieben. Wenn Hermann von Arnswald niederschreibt, der Architekt Hugo von Ritgen sei verstorben, fühlt man seinen Kummer. Von ihm habe ich auch erfahren, dass sich in den 1880er Jahren dort, wo heute das Ritterbad steht, ein Bärenzwinger befand: Er berichtet ausführlich über die beiden Bären Mischka und Mischko und deren Jungen. Beim herzlichen Austausch von Bernhard von Arnswald und Großherzog Carl Alexander erkennt man, wie nahe sich die beiden Männer standen, wie stark sich Arnswald mit der Wartburg, seinem Lebenswerk, identifizierte und wie sehr der Junggeselle sie liebte. Bei Cranach kann man verfolgen, wie die Aufnahmen der Wartburg für Max Baumgärtels monumentales Werk „Wartburg. Ein Denkmal deutscher Geschichte und Kunst“ entstehen, oder wie tief getroffen er ist, als Großherzogin Sophie 1897 verstirbt. Zum Schmunzeln brachte mich die Schilderung Cranachs, dass er im Januar 1897 an einem verschneiten Wintertag vom Droschkenplatz aus mit dem Schlitten hinunter zur Stadt sauste, während sein treuer Begleiter, ein Pudel, übermütig um ihn herumtollte.
Die Wartburg ist für viele ein ganz besonderer Ort und hinterlässt oftmals schon bei der Anfahrt einen bleibenden Eindruck. Bei mir hingegen hinterlässt sie so viel mehr, vor allem Erinnerungen an zwei Jahre, die mich in mehrfacher Hinsicht sehr viel weitergebracht haben. Und wer weiß, vielleicht reichen die Fotos ja noch für einen zweiten Kalender.
Bildunterschriften und -nachweise:
Abb. 1 Die Wartburg von Nordosten bei Nacht. Foto: Clara Neumann
Abb. 2 Blick von der Schanze der Wartburg nach Osten bei Sonnenaufgang. Foto: Clara Neumann
Abb. 3 Blick aus dem Fenster der Kommandantendiele auf den ersten Burghof. Foto: Clara Neumann
Abb. 4 Der erste Burghof der Wartburg nach Norden im Schnee. Foto: Clara Neumann
Abb. 5 Der Aufgang zur Wartburg (Steinweg) bei Sonnenschein. Foto: Clara Neumann
Abb. 6 Der Steinweg in den winterlichen Morgenstunden. Foto: Clara Neumann
Abb. 7 Modeln im Kettenhemd. Foto: Rainer Salzmann
Abb. 8 Der erste Burghof der Wartburg nach Süden. Foto: Clara Neumann
Abb. 9 Die Kommandantenlaube im Kommandantengarten im zweiten Burghof. Foto: Clara Neumann
Abb. 10 Regenbogen über dem Minnegarten der Wartburg. Foto: Clara Neumann